Stellt Euch vor, Bewerber:innen fordern mehr Gehalt als Mitarbeitende in ähnlichen Positionen aktuell bei Euch schon verdienen. Wie kann man damit umgehen? Dem Wunsch gerecht werden und in Kauf nehmen, dass man langjährige Angestellte mit weniger Gehalt verprellt? Antworten auf diese Frage gibt der erste Leitsatz des New Pay Manifests.
Wenn Menschen sich bei einem Unternehmen bewerben, sollen sie häufig einen Gehaltswunsch angeben. Sie hören sich im Bekanntenkreis um oder konsultieren Online-Gehaltsdatenbanken. Sie informieren sich auf Gehaltsrechnern, was eigentlich marktüblich ist, bevor sie in eine Gehaltsverhandlung gehen. Oft entsteht dabei ein unrealistisches Bild von dem, was Menschen in einem bestimmten Job verdienen können. Wer beispielsweise versehentlich auf eine andere Branche oder einen etwas anderen Verantwortungsbereich schaut, liegt unter Umständen mit der Selbsteinschätzung komplett daneben – denn der Kontext fehlt.
Aus der Forschung ist bekannt: Menschen schätzen sich selbst häufig überdurchschnittlich gut ein. Bei einem Wechsel des Arbeitsplatzes möchten sie außerdem einen Gehaltssprung machen – schließlich entspricht das der gesellschaftlichen Erwartung. In der Regel preist man dann on top einen Aufschlag ein in der Annahme, dass der Gehaltswunsch Ausgangspunkt einer Verhandlung sein wird. Doch wie Menschen tatsächlich zu dem genannten Betrag kommen, bleibt ebenso ihr Geheimnis wie die Überlegungen der Unternehmen. Der Gehaltswunsch wird zum Marktpreis. Die Folge: Die Kompetenzerwartung verdichtet sich auf einen Preis. Unterbelichtet bleibt dabei die eigentliche Frage: ob der Job für diese Person überhaupt der richtige ist.
Der Wert von Gehaltsbenchmarks
Gehaltsbenchmarks sollen hier für Klarheit sorgen. Doch was sagen sie konkret aus? Vergleichsquellen von Gehaltsdaten gibt es viele, etwa Gehaltsstudien von Vergütungsberatungen, Gehaltsangaben auf Online-Plattformen oder in Tarifverträge vergleichbarer Branchen oder Tätigkeitsfeldern. Der Informationswert ist jeweils ein anderer. Man muss diese Daten also richtig lesen können.
Gehaltsbenchmark: Einfach erklärt
Gehaltsbenchmarks sind vor allem Richtwerte. Wolf Lotter erklärt das gut in seinem Buch „Unterschiede“: Benchmark bezeichnete ursprünglich ein Zeichen, das Landvermesser setzen, um das Terrain zu erfassen und das Gelände einschätzbar zu machen (englisch bench = Bank und mark = Zeichen). „Wenn man sich mit anderen vergleicht, macht man die zum Maßstab, die man beobachtet. Das ist aber gar nicht der Job. Der besteht vielmehr darin, herauszufinden, wie man selber ist.“
Wie sollten sich Unternehmen zum Markt positionieren?
Stellen wir uns einmal vor, wir arbeiten in einer Firma, die das Banking von morgen neu erfinden möchte. Eine nachhaltige Finanzplattform soll entstehen, für Smartphones designt, in Kooperation mit der User-Community. Dafür braucht es schlaue Köpfe, die nicht nur die Vision einer nachhaltigen Zukunft des Bankenwesens teilen, sondern auch agile Arbeitsweisen, Technologien und Methoden im Entwicklungskontext beherrschen. Auf der Liste offener Jobs steht unter anderem eine Stelle als Product Owner. Erfahrungen im Start-up-Umfeld wären schön. Agilität sollte die Person nicht nur vom Hörensagen kennen. Im Bewerbungsprozess fällt die Wahl auf eine Kandidatin, die den Nagel auf den Kopf trifft. Da gibt es nur ein kleines Problem: ihre Gehaltsvorstellung. Sie liegt jenseits der Gehälter, die bisher im Unternehmen üblich sind. Was tun? In den sauren Apfel beißen und das gewünschte Gehalt bezahlen – auch auf die Gefahr hin, dass es später im Team zu einem starken Ungleichgewicht beim Gehalt kommt, weil die Peers viel weniger verdienen? Dem Marktdruck standhalten und sich für die zweite Wahl, einen weniger passenden Kandidaten entscheiden?
Dieses Dilemma kommt vielen sicher bekannt vor. Um ihm zu begegnen, sollte man sich zunächst ein paar Fragen beantworten.
1. Was ist mein Markt?
Im oben genannten Beispiel ergeben sich verschiedene Möglichkeiten, den „eigenen Markt“ zu definieren. Möchte man sich mit etablierten Banken vergleichen oder mit Start-ups? Mit Konzernen oder KMUs? Oder gar mit Arbeitgebenden in anderen Branchen, die auch Smartphone-Anwendungen konzipieren oder agil arbeiten und am gleichen Standort sitzen? Man wird jeweils zu anderen Ergebnissen kommen.
2. Was sind gängige Vergleichsparameter?
Median- vs. Durchschnittgehalt: Ein zentraler Wert in Gehaltsbenchmarks ist der Median: 50 Prozent der Vergleichsgehälter liegen unterhalb und 50 Prozent oberhalb dieses Werts. Man möchte so verhindern, dass Ausreißer nach oben oder unten die Einschätzung verzerren – was beim Durchschnittgehalt der Fall sein kann. Der Median, auch 2. Quartil genannt, suggeriert eine klare Standortbestimmung. Als marktgerechte Gehälter gelten für gewöhnlich Beträge zwischen dem unteren und dem oberen Quartil. Das heißt, 25 Prozent der gesammelten Gehaltsdaten liegen unterhalb dieses Wertes und 25 Prozent darüber.
Jobtitel vs. Berufsgruppen: Eine häufige Vergleichsgröße sind Jobtitel. Doch seit Jahren werden diese immer inflationärer gebraucht. Queen of Everything, Wizard of Why oder People Bridgehead – klingt gut, macht aber die Stellen kaum noch vergleichbar. Bezeichnungen wie „Product Owner“ sind in der Theorie präziser, in der Praxis jedoch nicht. Es gibt nur wenig Vergleichsdaten für relativ junge Jobprofile und die Anforderungen können in jedem Betrieb andere sein. Berufsgruppen als gröbere Einteilung fassen zwar mehr Jobtitel, sind aber oft zu ungenau. Meistens kommen noch Berufserfahrung und Führungsverantwortung als Vergleichsgrößen hinzu – auch hier gibt es sehr viel Spielraum, was man darunter versteht.
3. Woher stammen die Vergleichsdaten?
„Offene Studien“ stehen meistens jedem Unternehmen zur Verfügung, manchmal aber nur den Studienteilnehmenden. „Geschlossene Studien“ wiederum führen Unternehmensberatungen exklusiv für Auftraggebende durch, denen die Informationen vorbehalten bleiben. Branchen- oder funktionsbezogene Studien stehen Cross-Industry-Studien gegenüber, die nicht nach der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Branche differenzieren. Generell gilt bei Gehaltsdaten: Je individueller diese für ein Unternehmen zusammengestellt sind, desto höher der Preis.
Auch offizielle Stellen wie das Statistische Bundesamt (Destatis) können eine Gehaltsquelle sein. Die Angaben sind für einen unternehmensspezifischen Gehaltsbenchmark allerdings eher ein grobes Richtmaß. Ebenso können Gehälter in tarifgebundenen Unternehmen über deren Tarifsysteme ein Anhaltspunkt sein. Doch Achtung: Unternehmen mit Tarifbindung zahlen in der Regel überdurchschnittlich. Eine weitere Vergleichsquelle – vor allem für Bewerbende – sind Gehaltsangaben in sozialen Netzwerken und Plattformen wie Glassdoor, Kununu, Linkedin oder Stepstone. Diese bieten Gehaltsinformationen von einzelnen Unternehmen, aber generell auch eine Gehaltsspanne für bestimmte Jobtitel. Die Verfahren zur Berechnung sind allerdings eine Blackbox. Aus welcher Motivation heraus und wie wahrheitsgetreu jemand die Gehaltsinformationen eingetragen hat, spielt keine Rolle – für die Plattformen zählt vor allem die Anzahl der Bewertungen. So kann es zu Verzerrungen kommen.
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4. Wie alt und problembeladen sind die Daten?
Gerade in offenen Studien oder auf Gehaltsplattformen rechnen die Anbieter von Gehaltsbenchmarks häufig auch ältere Daten mit hinein. Da ist die Dynamik des Arbeitsmarktes meist nicht mitgedacht. Es entstehen schließlich permanent neue Jobs, die Unternehmen auf ihre spezifischen Bedürfnisse zuschneiden. Und noch ein wichtiger Punkt: Warum sind Mitarbeitende oder Unternehmen bereit, ihre Daten – in welchem Umfang auch immer – für Gehaltsvergleiche zur Verfügung zu stellen? Weil sie selbst ein Problem haben. Sie suchen einen klaren Indikator, welches Gehalt angemessen ist. So beißt sich die Katze in den Schwanz.
Mögliche Handlungsoptionen
Jedes wirtschaftliche Unternehmen ist Teil eines Systems, das auf Marktmechanismen basiert. Kann man als einzelne Organisation überhaupt etwas verändern? Ohne bestimmte Fachkräfte wären die Ausfallkosten möglicherweise so groß, dass eine Organisation nicht überleben kann. Arbeitgebende müssen für Beschäftigte attraktiv sein. Doch nur dem Markt zu folgen, ist meist die schlechteste Option. Es gilt, mehr Gedankenexperimente zu wagen, den Blick nach innen zu richten und den Wert von Jobs zu thematisieren.
Gespräche über Informationsquellen: Statt eine Verhandlung zu führen, könnten Unternehmen in einen Dialog mit den Kandidat:innen eintreten: über die Quellen der Information und den Austausch über den Wert. Dabei helfen Fragen dazu, wie jemand zu dem Betrag kommt und welche Erwartungen von beiden Seiten damit verknüpft sind.
Keine oder transparente Verhandlungen: Gutes Verhandlungsgeschick und Selbstdarstellungskompetenz sind in den meisten Jobs –mit Ausnahmen in Vertrieb und Marketing – keine zentrale Jobanforderung. Auch das BAG schließt Verhandlungsgeschick als Entlohnungskriterium aus. Wer vor oder während eines Bewerbungsgesprächs kommuniziert, welche Gehaltsspanne unter bestimmten Bedingungen, zum Beispiel abhängig von den Kompetenzen und Erfahrungen, möglich ist, schafft eine faire Grundlage für die gemeinsame Zusammenarbeit.
Gehälter in Stellenausschreibungen: Gemäß einer 2023 beschlossenen EU-Richtlinie sollen Arbeitgebende das an künftige Beschäftigte für eine Stelle oder Arbeit zu zahlende Einstiegseinkommen oder dessen Spanne (basierend auf objektiven und geschlechtsneutralen Kriterien) VOR dem Bewegungsgespräch nennen – zum Beispiel in einer Stellenanzeige. Doch schon heute können Unternehmen, die Gehaltsspannen in die Stellenangebote aufnehmen, zeigen, dass sie sich über ihr Gehaltsgefüge Gedanken gemacht haben. Kandidat:innen können sich nun mit informiertem Blick überlegen, ob der Job unter den Bedingungen für sie attraktiv ist oder nicht. Beide Seiten sparen sich viel Zeit und mögliche Enttäuschungen.
Internes Gehaltsgefüge fokussieren: Voraussetzung für diese und weitere Handlungsoptionen ist allerdings, dass sie sich wirklich über ihr Gehaltsgefüge Gedanken gemacht und klare Strukturen und Prozesse für die Gehaltsfindung haben. Es braucht ein Vergütungssystem, das auf Kriterien zur Gehaltsbestimmung beruht, die zur Unternehmenskultur passen und der Arbeitsaufgabe und der Branche entsprechen.
👉 Mehr dazu erfahrt Ihr im Kapitel „New Grading“ des Buchs „New Pay Journey“ und beim Campus-Format New Grading.
Auch wer weitere Handlungsoptionen in Betracht zieht, kann sich am 1. Leitsatz des New Pay Manifests orientieren. Denn er stellt einen zentralen Glaubenssatz in der Arbeitswelt in Frage, der da sagt: Was der freie Markt hergibt, ist angemessen. Doch der Markt ist trügerisch, relativ und problembeladen. Gehälter von Beschäftigten folgen keinen OBJEKTIVEN Kriterien. Die Angemessenheit von Gehältern allein über Marktvergleiche herstellen zu können, ist ein falsches Versprechen. Die Ziele, die Aufgaben und die Werte muss sich jedes Unternehmen selbst setzen – und das gilt auch für ein angemessenes Gehalt.
Dieser Artikel basiert auf unserem Buch:
Das Wissen des New Pay Collectives und unserer Arbeit der letzten drei Jahre ist in diesem New-Pay-Reiseführer vereint: Wir schlagen Reiserouten vor, mit der Organisationen das passende Vergütungssystem gestalten, implementieren und weiterentwickeln können.