Ende Oktober 2020 hat das Statistische Bundesamt ein neues Tool namens „Gehaltvergleich“ in der Beta-Version an den Start gebracht. Ein paar Angaben zum Job genügen und schon gelangt man zum geschätzten Bruttomonatsverdienst. Können sich HR-Manager damit teure Gehaltsdatenbanken sparen? Und was sagt uns das Tool über die Fairness von Gehältern?
Die meisten, die dieses Tool einmal „just for fun“ ausprobieren, werden wohl die Parameter eingeben, die sie kennen: ihre eigenen. Position, Branche, Alter, Bundesland und Anzahl der Beschäftigten im Unternehmen führen uns geradewegs zu unserem geschätzten Bruttomonatseinkommen. Dieser Schätzwert beruht auf den Daten von ca. 60.000 zufällig ausgewählten Betrieben, die das Statistische Bundesamt alle vier Jahre für seine Verdienststrukturerhebung auf Länder- und Bundesebene befragt.
Anhand dieser Datenbasis wertete das Statistische Bundesamt aus, welche Kriterien das Gehalt einer Person beeinflussen und wie bedeutsam dieser Einfluss ist. Es wird explizit darauf hingewiesen, dass es sich bei den angezeigten Ergebnissen um durchschnittliche Werte handelt und berücksichtigt werden sollte, dass die Gehälter im Einzelfall häufig höher oder niedriger ausfallen können.
Wie aussagekräftig sind die Daten?
Für all diejenigen, deren tatsächliches Bruttomonatsgehalt stark von dem errechneten Durchschnittswert abweicht, ist das vielleicht ein kleiner Trost. Außerdem wurden „nur“ ca. eine Million Bruttolöhne von Mitarbeitenden mit festen Arbeitsverträgen ausgewertet, die in Vollzeit arbeiten – also keine von Freiberufler:innen und in der Regel auch nicht von Saisonarbeiter:innen. In das Tool fließen auch lediglich Daten von Unternehmen ein, die mindestens 50 Mitarbeitende beschäftigen. Davon gibt es in Deutschland laut Statista rund 80.000, während wir insgesamt hierzulande 3,2 Millionen rechtlich eigenständige Unternehmen haben. Das Trostpflaster wird uns also gleich wieder abgerissen. Denn viele Jobs, deren Gehaltsdaten man mit Hilfe des neuen Gehaltsrechners ablesen kann, kommen nur in Unternehmen ab einer bestimmten Größenordnung vor.
Ein weiteres Manko der Daten ist ihre Aktualität: Sie stammen aus einer Erhebung von April 2018. Seither könnte sich bei den Gehältern einiges verändert haben, schließlich hatten die Unternehmen zu der Zeit noch volle Auftragsbücher und insgesamt herrschte eine geringe Arbeitslosigkeit. Manche Arbeitgebende ließen vermutlich ihre Beschäftigten am wirtschaftlichen Erfolg teilhaben oder sorgten zumindest für einen Inflationsausgleich. Wenn wir großzügig rechnen, können wir jedoch von nicht viel mehr als 3 Prozent pro Jahr ausgehen – ein Prozentsatz, mit dem man schon eine gute Einschätzung treffen kann.
Inwiefern die Daten für Unternehmen taugen
Doch der Rechner wirft dennoch Fragen auf. Zum Beispiel: Für wen ist er eigentlich gedacht? Das Statistische Bundesamt hat die Daten unter anderem für die Festlegung des deutschen Mindestlohns verwendet und sie sollen auch bei Neuverhandlungen bestehender Tarifverträge Anwendung finden. Können Unternehmen also anhand der Daten Gehaltsentscheidungen treffen?
Es sind in der Regel zwei klassische Fälle, bei denen sich die Personalabteilung oder die Geschäftsführung auf die Suche nach Gehaltsdaten machen:
Wenn sie neue Stellen schaffen, sich das Unternehmen auf die Erwartungen der Kandidat:innen einstellen und die entsprechenden Kosten bereits im Budget einpreisen möchte.
Wenn Mitarbeitende vermehrt das Unternehmen verlassen und Exit-Gespräche ergeben, dass sie viele lukrative Angebote erhielten, die sie nicht ausschlagen konnten.
Insbesondere für alle anderen Unternehmen, die aus Kostengründen bisher keine klare Gehaltsstruktur haben oder intern kaum Daten erheben, wer im Unternehmen was verdient, könnte dieses Tool also eine Erleichterung darstellen – auch aus finanzieller Sicht.
Für Unternehmen, die ihre Datenbestände bereits kennen und schon eine gute Vorstellung haben, welche Kriterien für die angemessene Bezahlung ihrer Mitarbeitenden ausschlaggebend sind, wird die Relevanz des Tools für die Anpassung von Gehaltsstufen vermutlich gering sein.
Doch Unternehmen sollten sich bewusst sein, dass dieses Tool für alle zur Verfügung steht, also auch für ihre Beschäftigten. Da könnte es so manche Diskussion geben. Wenn Mitarbeitende signifikante Unterschiede zum Markt ausmachen, ist es naheliegend, dass sie mehr Transparenz und Klarheit über die eigenen Vergütungsstrukturen einfordern. Der Schuss kann für Arbeitgebende schnell nach hinten losgehen, wenn sie Beteiligte nicht aktiv zur Diskussion einladen und die eigene Vergütungsstruktur nicht nachvollziehbar erklären können.
Gehaltsunterschiede zwischen Männern und Frauen sind erschreckend
Eine Erklärung dürfte Unternehmen vor allem bei einer Frage schwerfallen: Wie kann es sein, dass sich die Gehälter von Männern und Frauen derart deutlich unterschieden? Auf der Startseite erläutert das Statistische Bundesamt diese Tatsache bereits explizit. Die Ursachen nennt es an der Stelle schlicht „vielfältig“. Aus Gründen der Transparenz habe man sich dennoch dafür entschieden, die Gehälter nach Geschlecht getrennt anzugeben. Will man mit dieser Erklärung der Fehlinterpretation vorbeugen, es könne sich hier um einen Rechenfehler handeln?
20 Prozent Gehaltsunterschied – bei gleichem Alter, gleicher Stelle, gleicher Berufserfahrung, gleicher Branche, gleicher Unternehmensgröße und gleiches Bundesland wohlgemerkt!
Die Zahlen sind bekannt, werden jedoch normalerweise gern über die bereinigte Lohnlücke schön gerechnet, die laut Statistischem Bundesamt bei etwa 6 Prozent liegt – wenn man beispielsweise berücksichtigt, dass Frauen bestimmte Berufe und Branchen wählen, die schlechter bezahlt werden. In dem neuen Gehaltsrechner kann sich aber niemand dahinter verstecken. „It’s real!“, scheint uns das Ergebnis entgegenzurufen. Wollte man mit diesem Reality-Check die Diskussion um den Gender Pay Gap neu anfachen oder uns nahelegen, wir sollten „die bittere Pille schlucken“? Jedenfalls besteht die Gefahr, dass Unternehmen, die dieses Tool nutzen, zu der Schlussfolgerung gelangen könnten, dass eine derartige Diskriminierung legitim sei und man sich schließlich nur nach dem Marktvergleich richte. Für die schockierenden Gehaltsunterschiede zwischen Männern und Frauen kann das Tool selbstredend nichts. Es bildet nur die Realität ab. Der Ball liegt also in der betrieblichen Praxis: Wer noch einen Beweis brauchte, dass bei dem Thema Handlungsbedarf besteht, hat ihn hier schwarz auf weiß.
Meine Empfehlung für Unternehmen:
Manchmal hilft es, einen Schritt zurückzutreten und sich zu fragen, wozu man ein solches Tool überhaupt nutzen möchte, statt sich direkt darauf zu stürzen. Was macht ein faires Vergütungssystem aus und welche Rolle sollte der Marktvergleich dabei überhaupt spielen? Wie man beim Thema Gehaltsunterschiede zwischen Männern und Frauen deutlich sehen kann: Vergütung ist hochkomplex. Es kommt selten etwas Gutes dabei heraus, wenn wir uns auf Daten verlassen, die dem nicht gerecht werden und die Vergangenheit widerspiegeln.
Sarah Maximilian ist New Pay Praktikerin. Als Organisationsbegleiterin und Zahlenmensch zugleich, entzerrt sie die Begriffe Geld und Wert und sucht nach kulturorientierten Lösungen für Vergütung.
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