Vergütungssysteme können in ihrer konkreten Ausgestaltung sehr unterschiedlich sein. Aber auf dem Weg zur passenden Lösung treten immer wieder ähnliche Herausforderungen auf. Welche das sind, haben Unternehmen verschiedener Größen und Branchen in Expert:inneninterviews beschrieben. Von ihren Erfahrungen lassen sich fünf zentrale Fragen ableiten, die sich jeder auf der New Pay Journey stellen sollte.
Wenn ein Vergütungssystem auf ein konkretes Unternehmen zugeschnitten ist, kann es am besten die gewünschte Wirkung entfalten. Wer sich allerdings in der Praxis mit dem Thema beschäftigt und einen eigenen Ansatz entwickeln möchte, ist oft aufs Ausprobieren angewiesen. Die aktuelle Forschung bezieht sich vorrangig auf die inhaltliche Ausgestaltung und ist daher wenig aussagefähig, wenn Herausforderungen im Entwicklungsprozess auftauchen. Um die Lücke ein wenig zu schließen, habe ich im Sommer 2023 in sechs Unternehmen verschiedener Größen und Branchen explorative Interviews mit zwölf Expert:innen geführt. Dabei kristallisierten sich fünf zentrale Fragen heraus, auf die alle Unternehmen im Entwicklungsprozess stoßen und die Ihr also auch berücksichtigen solltet:
1. Welchen Wertbeitrag soll unser Vergütungssystem belohnen?
Die größte Herausforderung zeichnet sich meist schon ganz zu Beginn ab: „Was verstehen wir unter Leistung? Welches Verhalten wollen wir eigentlich belohnen?“. Die Antworten auf diese Fragen können auch innerhalb des gleichen Unternehmens sehr unterschiedlich ausfallen. Ein Klassiker bildet dabei der Zwist zwischen dem Front-Office und dem Back-Office, also den Unternehmensbereichen mit und ohne direktem Kundenkontakt. Während Leistung im Front-Office (beispielsweise im Vertrieb) oft von Umsatzkennzahlen abgeleitet wird, ist der Beitrag des Back-Office (beispielsweise der Personalabteilung) zur Aufrechterhaltung des Kerngeschäfts nicht eindeutig aus der Erfolgsrechnung herauszulesen. Der Wertbeitrag kann je nach Bereich sehr unterschiedlich sein. Das erfordert daher oft auch mehrere Antworten auf die obige Frage. Hinzu kommt: Je nachdem in welchem Bereich man selbst tätig ist, kann es schwer sein, den konkreten Wertbeitrag anderer Bereiche einzuschätzen. Antworten auf diese Frage finden dann eher Akzeptanz, wenn verschiedene Stimmen gehört wurden oder sie ein interdisziplinäres Team erarbeitet. Ähnlich wie das Vergütungssystem selbst ist auch diese Debatte ein Spiegel der individuellen Unternehmenskultur. Daher gilt es auch hier, eine individuelle Definition zu finden. Sie bildet am Ende den Grundstein eines jeden Vergütungssystems.
2. Welche Perspektiven bietet unser Vergütungssystem?
Viele Vergütungssysteme bilden auch die Karrierewege eines Unternehmens ab. Vom Junior zum Senior und zur Führungskraft. Was ist jedoch mit Personen die bereits an der Spitze, beispielsweise an der Obergrenze ihres Gehaltsbandes angekommen sind? Gibt es eine unternehmensweite Obergrenze beim Thema Vergütung? Auch wenn diese Grenzen bei der Einführung des Vergütungssystems vielleicht noch nicht erreicht sein sollten, so wird dies über kurz oder lang zu einer entscheidenden Frage. Fakt ist, die gehaltlichen Entwicklungsmöglichkeiten von Mitarbeitenden sind immer endlich. Doch wird Entwicklung lediglich am Geld gemessen? Und ist das alternativlos? Bei der Entwicklung eines Vergütungssystems solltet Ihr Euch also die Frage stellen, welche zusätzlichen Perspektiven Euer Unternehmen zu bieten hat, abseits der finanziellen Belohnung. Für einen neutralen Blick kann es daher hilfreich sein, zunächst alle Kriterien zu bestimmen, die Ihr belohnen wollt, bevor Ihr über konkrete Vergütungshöhen sprecht.
3. Welche Ausnahmen fordert unser Vergütungssystem?
Keine Regel ohne Ausnahme? Ein Vergütungssystem setzt Spielregeln und damit klare Grenzen. Damit ist es ein wichtiger Beitrag zur Gleichstellung der Mitarbeitenden. Die Konzeption eines neuen Vergütungssystems kann individuelle Absprachen, Nepotismus („Die Frau vom Chef“) oder „Gentlemen‘s Agreements“ aus der Vergangenheit ans Licht bringen. Waren diese Ausnahmen berechtigt? Wird auch im neuen System die Frage nach einer Ausnahme laut, solltet Ihr das nicht als Bedrohung, sondern vielmehr als Einladung sehen. Denn dies deutet auf eine Lücke hin. Welcher Beitrag ist im Unternehmen besonders wichtig, wird aber bisher nicht belohnt? Zeichnen sich Personen, für die bisher Ausnahmen galten, durch eine besondere Form der Leistung aus? Kann man diese Qualität in das neue System integrieren und künftig alle Mitarbeitende dafür belohnen? Hier gilt: Mut zu weniger Perfektionismus und den Blick auf künftige Verbesserungen lenken.
4. Können und wollen wir uns das Vergütungssystem leisten?
Ein neues Vergütungssystem muss man sich leisten können. Zumeist sind mit einem neuen System Gehaltsanpassungen oder Gehaltssteigerungen der Mitarbeitenden verbunden. Denn Gehalt wird in der Regel nicht gekürzt. Bisher „überbezahlte“ Mitarbeitende bilden dann das „neue Normal“. Ein Vergütungssystem kann bei der Angleichung von Gehältern und einer besseren Verteilungsgerechtigkeit helfen, für das Unternehmen jedoch Mehrkosten bedeuten. Dies gilt es vor der Umsetzung zu kalkulieren, um eine Finanzierbarkeit sicherzustellen. Im Falle der interviewten Unternehmen stiegen die Personalkosten teilweise von einem Tag auf den anderen um bis zu 50 Prozent. Die Mehrkosten mögen zunächst abschrecken und die Realisierung eines neuen Vergütungssystems erschweren. Aber nicht immer muss die Anpassung sofort erfolgen und kann in mehreren Schritten über einen längeren Zeitraum ablaufen. Im Kontext des Arbeitsmarktes ist auch der Aspekt zu berücksichtigen, dass Recruiting und Einarbeitung zumeist teurer sind als bestehende Gehälter zu erhöhen. Mitarbeitendenbindung lohnt sich!
5. Ist unser Vergütungssystem nachvollziehbar und im Aufwand angemessen?
Am Anfang eines jeden Entwicklungsprozesses steht meist eine simple Idee oder ein klares Ziel für das Vergütungssystem. Doch wer kennt es nicht: Je tiefer man sich in das Thema einarbeitet, desto mehr Details werden sichtbar. Desto mehr Fragen bedürfen einer Antwort. Vergütung ist zudem ein Thema, das von vielen Faktoren beeinflusst wird und im Unternehmen verschiedene Emotionen weckt. Gerade dieser Kontext kann dazu verleiten, jeden kleinsten Aspekt zu berücksichtigen, um das perfekte Vergütungssystem zu realisieren. Aus einem einfachen Gehaltsspannen-Modell kann sich auf dem Papier schnell ein komplexes Peer-Grading-System entwickeln, das von verschiedenen halbjährigen Gesprächsformaten flankiert wird. Dies bindet dann in der Umsetzung aber regelmäßig große zeitliche Kapazitäten, insbesondere in der Personalabteilung. Daher gilt es, den voraussichtlichen Aufwand schon während der Konzeption abzuschätzen. Es empfiehlt sich zunächst mit einer schlanken Lösung zu starten und das System dann bei Bedarf später weiter zu verfeinern. Im agilen Kontext würde man hier von einem ersten Inkrement sprechen. Das spart in der Realität aber nicht nur Ressourcen. Ein einfaches System ist auch für alle Mitarbeitende deutlich besser nachvollziehbar. Und Nachvollziehbarkeit ist bekanntlich der erste Schritt zur Akzeptanz.
Du möchtest mehr zum Thema erfahren? Die hier erwähnten Interviews führte Bettina Rajsich für ihre Masterarbeit „Herausforderungen bei der Entwicklung von Vergütungssystemen“. Bei Interesse stellt Dir Bettina Ihre Arbeit gerne zur Verfügung und freut sich über den Austausch zu diesem Thema. Du kannst sie hier auf LinkedIn kontaktieren.
Über die Autorin
Bettina Rajsich kennt Vergütungsfragen nicht nur aus der Theorie, sondern beschäftigt sich damit in der Praxis ihres Unternehmens: Sie ist People & Culture Specialist bei pragmatic industries, ein Digitalisierungsdienstleister für den Maschinenbau. Anfang 2023 hat sie ein neues Vergütungssystem entwickelt und eingeführt – mit dem New Pay Collective als Inputgeber und Austauschpartner. Im Herbst 2023 hat sie den berufsbegleitenden Masterstudiengang Transformation & Management an der HfWU Nürtingen-Geislingen abgeschlossen.
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