Wenn Unternehmen ein faires Vergütungssystem aufbauen möchten, kommen sie auch in Zeiten von New Work nur selten um eine Bewertung von Tätigkeiten herum. Wie passt ein solches sogenanntes „Grading“ zu New Pay? Sehr gut, wenn man es partizipativ angeht und den Prozess umkrempelt, meint unsere Grading-Expertin Sarah Maximilian im Interview.
Sarah, wenn Unternehmen Vergütungssysteme aufbauen oder anpassen, führen sie meist ein Grading durch. Was versteht man darunter?
Wer fair vergüten möchte, braucht klare Beurteilungskriterien dafür, welche Aufgaben für ein Unternehmen mehr Wert haben als andere. Es geht darum, Stellen, Funktionen oder Rollen zu vergleichen – ohne Ansicht von Personen. Ich vergleiche das gern mit dem Auto-Quartettspiel: Da werden zwei Karten mit Automodellen anhand von verschiedenen Kriterien verglichen. Es zählt in diesem Vergleich nicht, wer am Steuer sitzt, sondern was der Wagentyp potenziell kann.
Konkret heißt das, man baut eine Art Tarifsystem, oder?
Ja, im Grunde schon. Es gibt unterschiedliche Methoden. Aber vereinfacht gesagt fokussiert man sich dabei auf bestimmte Kriterien – in den klassischen Modellen zum Beispiel auf Ausbildungsstufe, Berufserfahrung oder Führungsverantwortung. Man schaut, welche Erwartungen an eine Stelle oder Funktion für jedes Kriterium gestellt werden – meist nach dem Prinzip: je höher die Erwartung desto höher der Wert. Je nach Methode berechnet man dafür Punktwerte oder macht eine eher vereinfachte Beurteilung. Dann fasst man die Stellen oder Funktionen mit ähnlichen Werten zu Gehaltsgruppen zusammen. Meist entspricht das unterschiedlichen Leveln. Je höher das Level desto mehr Gehalt und sonstige Benefits.
Letztlich erstellt man also ein Raster mit Gehaltsbändern, in das Menschen „eingruppiert“ werden. Klingt nach Schubladensystem. Wie passt das zu New Work und einer guten persönlichen Potentialentfaltung?
Ob das passt, hängt stark davon ab, wie der Grading-Prozess abläuft. In vielen Unternehmen haben Mitarbeitende überhaupt kein Gefühl dafür, was eigentlich von ihnen erwartet wird. Dann hilft ihnen ein solcher Rahmen als Orientierungsmarke. Das bringt Klarheit, wer im Unternehmen welchen Mehrwert schafft. Ein Grading kann Ungerechtigkeiten identifizieren und Strukturen aufräumen.
Aber eine große Rolle spielt auch, wer den Vergleichs- und Bewertungsrahmen bestimmt. Und wie flexibel das Grading ist. Klassisches Grading ist sehr unflexibel und passt nur für Umfelder, die sich kaum verändern. Doch gerade erleben die meisten Organisationen das Gegenteil: alles wandelt sich stark, zum Beispiel auch die Vorstellung von Karriere. Dafür braucht es ein anderes Vorgehen. Wir sprechen im New Pay Collective von New Grading. Wir drehen den normalen Grading-Prozess um.
Inwiefern? Was ist New Grading genau?
Vergütungsberatungen und HR legen normalerweise zuerst die Kriterien fest, die man zur Bewertung von Tätigkeiten anlegt. Diese beruhen auf Annahmen, wie Organisationen funktionieren müssten. Dabei wird selten mit den Fachbereichen und den Mitarbeitenden geredet, die das betrifft. So erfährt man nicht, wie sich die eigenen Zahnräder wirklich drehen und was die Schmerzpunkte in der Organisation sind. Diese Annahmen werden im Training verwendet, um die Methode zu erklären und für diejenigen greifbar zu machen, die sie anwenden. Wenn dann Fragen oder Ungereimtheiten aufkommen, sind die Anwender:innen meist schlecht vorbereitet und können nicht darauf reagieren.
Wir hingegen begleiten Unternehmen dabei, das Grading selbst zu entwickeln – angepasst an die eigenen Realitäten. Ein diverses Projekt- oder Freiwilligenteam erarbeitet erst einmal, was passende Kriterien für eine Organisation sind und was Mehrwert für die Zukunft schafft. New Grading ist ein iteratives und partizipatives Verfahren in Echtzeit.
Über Sarah Maximilian
Als New-Pay-Pionierin und Agile People Coach begleitet Sarah Maximilian Unternehmen bei ihrer kulturellen und geschäftlichen Transformation. Ob aus Deutschland, Dänemark oder Schweden, wo sie aktuell lebt – sie hat für internationale Unternehmen in den Bereichen Vergütung & Benefits, Performance Management, HR Operations und Systeme gearbeitet.
Sarah ist Mitglied im New Pay Collective und selbständig mit ihrer Beratung Yellow BC unterwegs. Sie unterstützt Organisationen dabei, Agile-Reward-Konzepte zu erforschen und zu entwickeln – basierend auf den Prinzipien Selbstorganisation, Vertrauen, partizipative Zusammenarbeit und Zukunftsorientierung.
Es gibt aber durchaus Vergütungsberatungen, die Mitarbeitende bei der Bewertung einbinden und nach ihren tatsächlichen Aufgaben fragen.
Ja, manchmal schon, aber zu spät. Wenn die Kriterien nicht passen, hinkt auch die Bewertung. New Grading geht in den Austausch mit der Organisation und untersucht, ob die Strukturen, Prozesse und Kompetenzen immer noch so sind, wie es Teams oder Unternehmen sich vorstellen. Ob das Verständnis in der einen Abteilung anders ist als in der anderen. Ob das, was seit zehn Jahren irgendwie immer okay war, auch in den nächsten Jahren noch Erfolg verspricht.
Wie findet sich ein Grading-Projektteam?
Im ersten Schritt besprechen wir mit der Geschäftsführung und Organisationskenner:innen das eigene Zukunftsbild der Organisation. Der nächste Schritt ist ein Grading Projekt. Dafür empfehlen wir, ein diverses Projektteam zu bilden. Divers bedeutet für uns eine Mischung nach Alter, Geschlecht, Betriebszugehörigkeit und vor allem nach Unternehmensbereichen und Hierarchiestufen. Die Unternehmensführung kann vorgeben, wer genau im Projektteam mitmacht. Aber wir sehen auch eine Offenheit für Freiwilligenteams.
Und was genau macht das Projektteam?
Es erarbeitet gemeinsam Bewertungskriterien, passend zur Kultur, zu den Strukturen und dem Zukunftsbild der Organisation. Wir vom New Pay Collective moderieren diese Grading-Workshops, in denen Mitarbeitende mit und ohne Führungsrollen voneinander lernen und ausprobieren, welche Ansätze für ihren Berufsalltag passen. Die Beteiligten geben Input über den Status quo der Organisation. Sie erarbeiten eine Bewertungsvorlage von Tätigkeiten und machen Vorschläge, wie man Gehaltsbänder dahinter legen kann.
Was ist daran besser als an einem Konzept der Personalabteilung – im Projektteam können doch auch nicht alle Mitarbeitenden mitmachen, oder?
Projektteams umfassen normalerweise vier bis acht Personen. Aber die Mitglieder des Projektteams sind auch Multiplikator:innen für ein neues Vergütungssystem. Sie können besser als Außenstehende ausdrücken, was sich hinter einzelnen Kriterien verbirgt. Begriffe wie Engagement zum Beispiel lassen sich ganz unterschiedlich füllen. Deshalb versagen die Konzepte externer Vergütungsberater:innen oft, weil sie nicht die Sprache der Organisation sprechen.
Wie kommt das Projektteam zu guten Entscheidungen?
Das kann man nicht generisch festlegen, sondern muss individuell im Unternehmen schauen, welcher Entscheidungsmodus zur Arbeitsweise passt. Wichtig ist zu verstehen: Der Austausch in der Projektgruppe und in der Organisation ist wertvoller als das Ergebnis. Nicht alles, was die Beteiligten theoretisch diskutieren, muss funktionieren. Unterschiedliche Interpretationen zeigen Spannungsfelder, die man klären sollte. Am Ende muss man die Kriterien und Beschreibungen verschiedener Erwartungen an die Jobs im Unternehmen einfach erproben.
Hast Du ein Beispiel?
Früher zählten oft klar messbare Kriterien, wie Headcounts, Budgets oder Berufserfahrung in Jahren. Das Projektteam merkt schnell, dass sie damit in einer Sackgasse enden können. Wenn es um Führungsverantwortung geht, fangen die meisten bei der Führungsspanne an und kommen dann schnell aufs Führungsverständnis. In dieser Diskussion tauscht man eigene Erfahrungen und Einschätzungen aus – und kommt auf einen gemeinsamen Nenner. Zum Beispiel, dass der Wert von Führung nicht mehr nur von der Größe der Abteilung abhängt, sondern davon, ob deren Tätigkeiten erfolgskritisch für die Organisation sind. Das Projektteam übt sich darin, nach vorne zu denken.
Ist eine solche Diskussion nicht sehr konfliktträchtig?
Ja, für das Projektteam werden die Schwachstellen des Vergütungssystems sichtbar. Aber es braucht die Reibung, um zu erkennen, dass Menschen völlig unterschiedliche Bilder im Kopf haben. Das muss man transparent machen, um mehr Fairness zu schaffen und mehr Robustheit in das neue System zu bringen. In unseren Workshops schauen wir zunächst systemisch und möglichst objektiv auf die Situation. Dann kann man aktuelle Ausreißer identifizieren und überlegen, wie man das in Zukunft vermeidet. Ein solches Grading ist eine gute Grundlage, um Ungerechtigkeiten wie den Gender Pay Gap leichter zu identifizieren. Weil man wirklich vergleichbare Funktionen miteinander vergleicht und nicht Äpfel mit Birnen.
Wenn man das Grading-Raster erstellt hat, geht es eigentlich erst ans Eingemachte: Die Organisation muss das Ganze anwenden. Die Probe aufs Exempel. Geht das immer gut?
New Grading hat einen klaren Vorteil: Beschäftigte, die am Grading mitgearbeitet haben, verstehen das eigene Vergütungssystem wirklich. Sie können Kolleg:innen leichter onboarden. Beim herkömmlichen Grading ist es oft rein zufällig, ob die Ergebnisse akzeptiert werden – je nachdem, ob sie aus der persönlichen Erfahrung stimmig erscheinen. Wie oft habe ich in meiner Zeit als Vergütungsberaterin erlebt, dass Grading-Konzepte stillschweigend in der Schublade verschwinden und nie angewendet werden. Oder Mitarbeitende und Führungskräfte das System einfach als gegeben hinnehmen, ohne darin einen Sinn zu erkennen. Dann verpufft die Hebelwirkung von Grading. Das Problem: Viele Organisationen sehen Grading als Lösung all ihrer Vergütungsprobleme. Aber es ist ein Tool, das möglichst viele Menschen in der Organisation nutzen sollten.
Und wenn man das Grading gemacht hat, wie lange trägt das dann dem starken Wandel, den wir aktuell in der Arbeitswelt erleben, bei?
Wir trainieren die Organisationen an konkreten Beispielen – und das gilt auch für erste Bewertungen. Wer Grading anwendet, gewinnt darin Sicherheit. Dann kann man die Methode selbst weiterdenken. Es kommt immer wieder vor, dass die Anwender:innen Strukturen im Team oder in der Abteilung komplett neu denken, weil sie erkennen, dass sie nicht zukunftsfähig aufgestellt sind. Wenn Menschen das verstanden haben, bauen sie Ängste ab: Sie fürchten nicht mehr, dass sie über ihre Köpfe hinweg bewertet werden. Und gestalten Transformation gerne proaktiv mit.
Im Impuls- und Dialog-Format “NewGrading” erklärt Sarah Maximilian die Grundlagen von New Grading noch genauer.
Über die Autorin
Stefanie Hornung liegt nachhaltiges Management und Vergütung am Herzen. Ob im Newsletter "Gehaltvolle Zeilen" oder auf dem Blog - sie greift aktuelle Themen der Arbeitswelt auf und komponiert Geschichten mit Tiefgang.
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